Friday, June 23, 2006

Crips


Frühling 1971, der Schulhof der Washington High School in South Central Los Angeles. South Central, vornehmlich von Schwarzen bewohnt, ist zu dieser Zeit einer der gefährlichsten Stadtteile der Engelsstadt. Die Schulhöfe werden von Gangs drangsaliert. In den Strassen herrscht Bandenkrieg. In den Familien Misere. Der Rechtsstaat ist nutzlos, die Erziehungsbehörden sind hilflos. Die Polizei ist brutal und rassistisch und für die schwarze Bevölkerung der Feind Nummer eins. Stanley Williams, Nom de Guerre «Tookie», steht auf dem Schulhof mit einem Homeboy, als sich zwei muskulöse Fremde nähern. Offensichtlich suchen sie ihn, und das heisst, sie suchen Ärger. Denn mit Williams ist nicht zu spassen. 17 Jahre im sozialen Minenfeld South Central haben aus ihm einen Krieger gemacht. Er nimmt jeden Kampf an. Und er ist cooler als Eis. Die zwei Fremden bauen sich vor ihm auf: «Bist du Tookie?», fragt der eine. «Ja, der bin ich, warum?», knurrt Williams. Der Fremde lächelt und stellt sich vor als Raymond Washington. Die beiden geben sich die Hand. Es ist ein Pakt, den sie schliessen. Denn beide haben genug von den Gangs, deren Territorien sich wie ein unsichtbares Netz durch die Stadt ziehen, den Gangs, die willkürlich prügeln und rauben. Sie haben genug und sie wollen sich wehren, sich und ihre Nachbarschaft beschützen, indem sie eine Allianz bilden, die grösser und mächtiger ist als jede Gang. Das wird ihnen gelingen. Aber ganz anders, als sie es sich an diesem sonnigen Tag auf dem Schulhof träumen lassen. Der Handschlag ist der Anfang der Crips, eine Gang, die schnell populär wird. Doch vom sozialen Impetus der beiden Gründer bleibt nichts übrig. Die Crips verhalten sich wie jede andere Gang, sie prügeln, sie rauben, sie morden, sie dealen. Nur dass sie grösser und mächtiger sind als die andern. Die Verbrechen der Crips machen Schlagzeilen, die Schlagzeilen machen die Gang noch populärer. Ende der siebziger Jahre beherrschen die Crips den Drogenhandel in den Gettos, jährlich sterben Hunderte bei Schiessereien. Die Crips verbreiten sich immer weiter, über die ganzen Vereinigten Staaten. Raymond Washington und Stanley Tookie Williams leben derweil ein schnelles Leben am Rande. Washington wird 1978 erschossen. Williams, inzwischen ein imposanter Bodybuilder, abhängig von Angel Dust und zahlreichen anderen Drogen, ist ein berüchtigter Krimineller und ganz oben auf der schwarzen Liste des L.A Police Departments. Am 15. Mai 1979 wird er verhaftet. Er soll bei einem Raubmord vier Menschen erschossen haben. Williams selbst bestreitet die Tat bis heute. Ihm wird der Prozess gemacht, 1981 wird er zum Tode per Giftspritze verurteilt. Heute sitzt Williams in einer Todeszelle in St. Quentin, einem der ältesten Gefängnisse des Landes mitten in der hochnoblen San Francisco Bay Aerea mit Sicht auf die Golden Gate Bridge. Williams ist sein wohl prominentester Insasse. Vor dem Gefängnis und in ganz Kalifornien demonstrieren seit Wochen Hunderte gegen Tookies Hinrichtung. Doch die Demonstranten sind keine Gangmitglieder. Denn in dem Vierteljahrhundert, das der verurteilte Raubmörder hinter Gittern verbracht hat, sechs Jahre davon in Isolationshaft, hat er sich gewandelt. Mitte der neunziger Jahre begann er zusammen mit der Journalistin und Mentorin Barbara Becnel eine Reihe von Büchern zu veröffentlichen, in denen er sich an Kinder und Jugendliche in sozialen Brennpunkten wandte und sie davor warnte, Zuflucht bei kriminellen Strassenbanden zu suchen. Er machte sich aus dem Gefängnis heraus übers Internet einen Namen als Friedensaktivist, er setzte seine «Reputation» als Gründer der Crips dafür ein, dass die Kids nicht in seine Fussstapfen treten. Viele tausend Jugendliche soll er davor bewahrt haben, ein kriminelles Leben als Gangmitglied zu führen. Dafür wurde er viermal für den Friedens- und dreimal für den Literaturnobelpreis nominiert. Sogar Präsident George W. Bush honorierte Williams für seinen Einsatz gegen die Gang-Gewalt. Williams stehe für das, was Amerika auszeichne, liess er verlauten, als er ihn diesen Sommer für seinen Einsatz gegen Jugend- und Bandenkriminalität mit einem Preis für vorbildliche ehrenamtliche Arbeit auszeichnete. Allerdings dürfte George W. Bush zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst gewesen sein, wer Williams tatsächlich ist und dass er in St. Quentin auf seine Hinrichtung wartet. Williams Anwälte versuchten bislang erfolglos, eine Neubewertung seines Falles zu erwirken. Beim Prozess 1981 habe es Unregelmässigkeiten gegeben, behaupteten sie, schwarze Geschworene seien absichtlich vom Prozess ausgeschlossen worden. Doch noch Ende November lehnte der kalifornische Supreme Court ein Wiederaufrollen seines Falles ab. Jetzt kann einzig noch Gouverneur Schwarzenegger den Crips-Gründer begnadigen. Morgen Donnerstag wird er Williams Anwälte treffen und dann entscheiden, denn, so sagte Schwarzenegger vergangene Woche: «Ich will sicher gehen, dass wir die richtigen Entscheidungen treffen. Schliesslich geht es um das Leben einer Person.» Der Fall ist heikel, denn Williams ist populär. Neben verschiedenen Unterstützergruppen machen sich Hip-Hop-Stars aus Crips-Kreisen wie Warren G, Snoop Dogg oder Goldie Loc für eine Begnadigung stark, ebenso der Schauspieler Jamie Foxx, der im Fernsehfilm über Tookies Leben die Hauptrolle spielte. In seiner Wandlung vom Bandenchef zum Friedensaktivist ist Williams eine starke Symbolfigur für die schwarze Gemeinde in Los Angeles, und zwar sowohl für soziale Gruppen wie für die nach wie vor aktive Crips-Gang, die bei einer Hinrichtung Unruhen provozieren könnte. Williams Werdegang mag in seiner Kompromisslosigkeit einzigartig sein, doch die sozialen Bedingungen, die er in seiner Autobiografie schildert, die Gewalt, der Rassismus, die Demütigungen sind für Tausende schwarzer Jugendlicher identisch. So beschreibt Williams in seiner Autobiografie, wie er am ersten Tag in South Central Los Angeles die eine grosse Lehre seines Gangsterlebens zog. Der sechsjährige Williams, neu im Viertel, spielt draussen und trifft den Nachbarjungen. Dieser fragt ihn, wie er heisse. Dann schlägt er ohne Vorwarnung zu. Williams lernt: Das Leben ist eine Hackordnung. Der schnellste, aggressivste und skrupelloseste Angreifer gewinnt. Seine kriminelle Laufbahn vollzieht sich in diesem Umfeld mit der Unabwendbarkeit einer biblischen Plage. Williams fliegt von einer Schule nach der andern. Er kommt in den Jugendknast, er kommt wieder raus. Er hängt auf der Strasse rum, bei Zuhältern, Dealern, Alkoholikern, er nimmt Drogen, dazwischen Kämpfe, Bagatelldelikte, Verhaftungen, Jugendknast, Erziehungsanstalten, neue Kämpfe. Doch die Gewalt beschränkt sich nicht auf Schlägereien. Genau so schwer wiegen rassistische Stereotypen, die Williams quasi mit der Muttermilch aufsaugt und die besagen, dass «Schwarze genetisch zum Verbrechertum programmiert sind, weil sie minderwertig, ungebildet, träge und promiskuitiv» seien, wie er in seiner Autobiografie schreibt. Schwarze Vorbildfiguren gibt es kaum, diejenigen, die es gab, wurden in den sechziger Jahren ermordet. Dennoch ist «Redemption» - Wiedergutmachung - ein Schlüsselbegriff für Williams. Er weiss, wovon er redet, wenn er junge Schwarze vor den Gangs warnt, und so hat sein Wort Gewicht. Vielleicht, so sagen sich viele Tookie-Sympathisanten, wäre es an der Zeit, dass auch der kalifornische Staat sich mit der Möglichkeit der Wiedergutmachung auseinander setzt. Für die soziale Misere in den Schwarzenvierteln, die noch heute viele Jugendliche zu den Gangs treibt, für den Rassismus und die Polizeibrutalität in den Städten. Und wenn man liest, wie Tausende von Schwarze sich auf Tookies Internetseite dafür bedanken, dass er sie von der Strasse weggeholt hat, so wäre es nichts als gerecht, wenn diese Vorbildfigur vom Tod durch den Henker verschont würde.

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